Eine neue Folge unserer Serie #heimspiel! Diesmal hat “Glocke”-Redakteur Uwe Gehrmann unsere Nummer “25” Daniel Francis in seiner Gastfamilie in der Ahlener Kolonie besucht.
Darf man Mitleid haben? Kennt er nicht das Gefühl des Verlassensein? Ist er denn kein Fremder in einem fremden Land, in einer fremden Stadt? Ohne Freunde, ohne Familie, und nur den Fußball als launischen Begleiter. Grade 18 Jahre jung geworden und krank vor Heimweh? Muss schlimm sein, oder? Was? Er lacht und lehnt sich entspannt auf der Gartenbank zurück. „Einsam? Nö. Gar nicht.“ Daniel Francis sitzt in der Ahlener Kolonie unter einem blühenden Kirschbaum. Über ihm weht die Fahne von Trabzonspor Kulübü in der Frühlingsbrise, er zwinkert gegen die Sonne an und schaut, als hätte man ihn grad gefragt, ob Joghurt Gräten hat.
Francis lacht überhaupt viel. Im Februar ist der junge Mann frisch aus der Jugend des englischen Clubs Bradford City (300 000 Einwohner) nach Ahlen (52 000 Einwohner) gewechselt und es geht ihm so gut, wie es einem gehen kann, der völlig in sich ruht. Und der weiß, was er will. „Man muss nur eine gewisse Routine einhalten, dann ist alles nicht so schwer“, sagt er mit der Reife eines Mannes und dem Lächeln eines Teenagers. Dann spricht er über seine morgendlichen Sportübungen, seine Spaziergänge durch Ahlens bunten Osten, dass er Bücher liest, Französisch lernt. „Man darf den Tag nicht verschlafen oder mit fernsehen verplempern. Keine unnützen Sachen, die einen nicht weiterbringen“, stellt er fest. Und die Augen strahlen.
Aha. So ist das also. Man staunt. Letztes Jahr hat er in Bradford, oben in der Grafschaft West Yorkshire, sein Abitur gebaut. Und will im September sein Fernstudium über „Internationale Beziehungen“ in London beginnen. Aber was noch geiler ist? Francis beugt sich vor und reibt vergnügt die Hände. Fußball! Und dann entspannt man sich doch noch – denn vor einem sitzt ein ganz normaler Junge, der nicht nur Wirtschaftsgeschichte oder Machiavellis „Fürsten“ liest, sondern einfach nur richtig Bock auf Pöhlen hat. Gut, vielleicht mit etwas mehr Disziplin als der Durchschnitt. Dabei wirkt Francis recht harmlos, wenn er spielt, noch etwas schmal unter den Schränken der Senioren. Täuscht aber: „Der ist eine richtige Maschine“, sagt sein Trainer, der den smarten Kleinen als Rechtsfuß gleich auf die linke Abwehrseite in die Stammelf berufen hat. „Seitdem haben wir uns stabilisiert“, wundert sich Andreas Zimmermann selbst, wie Daniel die Großen der Regionalliga abkocht.
Der so hoch Gelobte hält aber den Ball flach. „Ich bin hier, um mich weiterzuentwickeln“, freut er sich über die Chance, den gegnerischen Routiniers das Kurzpassspiel zur Hölle zu machen. Denn in England hätten sie ihn gerade mal in die U 23 gepackt. Hier in Ahlen hingegen wächst er, indem er sich an den Erfahrenen misst. „Man kann nicht mehr so viel Risiko spielen, das nutzen die gnadenlos aus“, hat er sich vom Kleinsein verabschiedet. „Wie soll ich sagen? Man spielt einfach erwachsener.“ Glücklicher kann einer auch 650 Meilen von Zuhause gar nicht sein. Mitleid? Macht so viel Sinn wie Joghurt mit Gräten.
Deutsch lernen mit Sandmännchen und Rabe Socke
Bevor man zu ihm in die dritte Etage klettern darf, erst Schuhe ausziehen. „Ist die Hausregel“, zuckt Daniel Francis ergeben die Schultern und huscht in Socken die Treppe hoch. Nach den ersten Tagen im Hotel hat ihn ein familiäres Umfeld zurück. „Im Hotel sagten sie, sie hätten noch nie so einen angenehmen jungen Gast gehabt“, erzählt Orhan Özkara. Dann fiel dem Co-Trainer bei RW Ahlen ein, dass bei den Schwiegereltern noch eine große Wohnung unter dem Dach frei ist, und er ließ seinen Hoffnungsträger bei Bircan und Nalan Cura einziehen. Schön nahe der ehemaligen Zeche, wie es sich für einen ehrgeizigen schwarzen Fußballer aus England gehört, der jetzt von einer türkischen Großfamilie gehegt, gepäppelt und gepflegt wird. Ahlen eben.
„Und Türkisch lernt er jetzt auch noch“, freut sich Özkara, der sich noch seit seiner Preußen-Zeit mit blutjungen Spielern und ihren Sorgen auskennt. „So eine Familie ist doch ideal.“ Kann Daniel nur bestätigen. Er präsentiert stolz wie Bolle sein möbliertes Reich, nur die Küche ist mit Sportklamotten vollgestellt, und pflanzt sich zufrieden in die samtige Sitzgarnitur. Mag sein, dass es zuhause stylischer ist, aber auch so gemütlich? „Jeden Tag telefoniere ich mit meinen Eltern oder mit Schwester Ella, Papa ruft sogar noch nach dem Training an“, verrät Francis, warum das Heimweh erträglich ist. Aber als halber Deutscher sollte das eh kein Problem sein. Vater Daniel Francis aus Sierra Leone lehrt als Professor an der Bradford University über „Frieden und Konflikte“, aber seine deutsche Mutter Dagmar, Hebamme von Beruf, lehrt den Sohn und hat dafür gesorgt, dass Daniel besser Deutsch spricht, als mancher Gymnasiast in Lüdenscheid-Nord oder Herne-West.
„Ich hab zuhause immer das deutsche Kika geschaut, da hat Mama drauf geachtet“, hat Daniel in Bradford also vom Sandmännchen oder Rabe Socke erstmals die unregelmäßigen Verben gehört und sich auf Besuch bei seinen Großeltern in Tübingen den Feinschliff geholt. „Meine Eltern geben mir die Zeit, mich vorerst ganz dem Fußball zu widmen“, ist Daniel dankbar und macht klar, dass der Sport oberste Priorität hat. Selbst im Abstiegskampf in Westfalens vierter Liga. „Das motiviert mich erst recht. Völlig egal. Hier geht es immer nur ums Gewinnen. Selbst auf dem Bolzplatz will ich gewinnen.“ Hat ja für ihn bis jetzt gut funktioniert. Ob es das auch weiter tut, ist offen. Francis Vertrag gilt zwar noch für die nächste Saison, „natürlich Regionalliga“, lässt er keinen Zweifel. Aber er hat auch eine Ausstiegsklausel. Falls Liverpool oder Chelsea anklopfen. Man weiß ja nie. „Ach, ehrlich, keine Ahnung, was da in der Klausel drinsteht“, winkt Francis ab und blättert lieber interessiert in einem Buch über „Internationale Beziehungen“. Es gibt einfach Wichtigeres, wenn man 18 ist. „Ich spiele“, lacht er. „Was will man mehr?“ Natürlich!