Seit 246 Tagen stand Hakan Gültekin auf keinem Fußballplatz mehr. Der 24-Jährige, der in der vergangenen Aufstiegssaison 28 Ligaspiele für uns bestritt, zog sich am 31. Mai 2015 ausgerechnet im Spiel bei seinem Heimatverein TSG Sprockhövel einen Kreuzbandriss zu. Anders als Nico Lenz, der nach seinem Kreuzbandriss schon wieder trainieren kann, geht Hakans Leidenszeit noch weiter. Wir haben bei ihm nachgefragt und viele offene Worte zu hören bekommen:
Wie schwer waren die vergangenen acht Monate für dich, Hakan?
Wenn man immer davon geträumt hat, es einmal in die Regionalliga zu schaffen und man sich dann kurz vor dem Aufstieg verletzt und so lange ausfällt, dann tut das schon sehr sehr weh. Das ist so, als würde man wenige Meter vor der Ziellinie stolpern und kann das Rennen nicht mehr fortsetzen. Das muss man erstmal verarbeiten, vor allem, wenn man noch nie zuvor so eine schwere Verletzung hatte.
Als du nach dem Kreuzbandriss in Münster operiert wurdest, musstest du dich im Oktober einem erneuten Eingriff unterziehen. Was war passiert?
Nach der ersten OP lief zunächst alles super. Irgendwann bin ich zuhause aufgestanden und da hat es im Knie ganz merkwürdig geknackt. Anfangs ohne Schmerzen, die kamen jedoch nach ein paar Stunden und da war mir klar, dass hier irgendetwas gewaltig schief läuft. Als sich die Ärzte mein Knie danach angesehen haben, wurde ein erneuter Meniskusriss festgestellt, der zuvor bereits beim Kreuzbandriss mit dabei war.
Und das hat den Heilungsprozess so gewaltig verzögert?
Ja. Vorher war ich wirklich auf einem guten Weg. Seit dem erneuten Meniskusriss hatte ich immer wieder Probleme mit dem Knie.
Auch diese OP liegt mittlerweile fast vier Monate zurück. Die schlechten Nachrichten scheinen dir aber beharrlich zu folgen.
Das stimmt leider. Am 15. Januar hatte ich den letzten Termin in Hamm. Dort wurde mir mitgeteilt, dass das Kreuzband wieder sehr locker und instabil sei. Der Heilungsprozess hätte schon weiter fortgeschritten sein sollen, doch die erneute Meniskus OP hat das alles wieder hinfällig gemacht. Jetzt wird sich in den nächsten Wochen entscheiden, ob es von alleine wieder besser wird oder ob eine dritte Operation auf mich zukommt.
Was genau soll dann passieren?
Ich war in Hamm bei Dr. Bülhoff und der hat mir gesagt, dass der Weg zurück auf den Platz noch sehr schwer wird. Wenn es ganz schlecht läuft, müssen die Schrauben, die sich momentan in meinem Knie befinden, durch größere Schrauben ersetzt werden. Danach müsste man wieder einige Wochen warten und erst dann könnten die mich wieder am Kreuzband operieren. Wenn es tatsächlich so kommen sollte und ich weiterhin Fußball spielen will, werde ich gezwungen sein, diesen Weg einzuschlagen.
Wie geht es dir dabei, wenn die Leidenszeit kein Ende zu nehmen scheint?
Ich habe zuhause die eine oder andere Träne vergossen. Man könnte an manchen Tagen wirklich an die Decke gehen. Niemand, der Sport liebt, kann solche Rückschläge locker wegstecken. Die Schmerzen sind dabei gar nicht so schlimm. Ich mochte es beim Fußball immer, Schmerzen zu haben. Deswegen bin ich ja auch immer wie ein Verrückter in jeden Zweikampf rein gesprungen. Das wirklich schlimme ist die Antriebslosigkeit, wenn man nichts machen kann.
Einen guten Zeitpunkt für Verletzungen gibt es generell nicht. Aber wie schwer fällt es, beim Abenteuer Regionalliga zuschauen zu müssen?
Klar, das fällt einem schon schwer. Ich habe mich in den letzten Jahren stets weiterentwickelt und konnte immer von Saison zu Saison den nächsten Schritt machen. Umso ärgerlicher ist es da, dass ich jetzt zurückgeworfen werde und das gerade bei der Chance, in der vierten Liga Fuß zu fassen. Selbst wenn ich wieder fit bin, wird es seine Zeit dauern, bis man wirklich im Spielrhythmus ist. Daher kann ich nur hoffen, dass wir den Klassenerhalt packen, denn es wäre mein größter Wunsch, wenigstens einmal Regionalliga zu spielen. Schließlich komme ich aus der Knappensiedlung in Witten-Herbede, einer sozial schwachen Gegend und dort gibt es nicht viele, die das schon einmal gepackt haben. Viele meiner Freunde sind zu ihrem ersten Fußballtraining in der Jeans erschienen, die sie vorher in der Schule trugen, weil viele sich schlichtweg keine Sportsachen leisten konnten.
Wie groß ist die Unterstützung in deinem privaten Umfeld?
Meine Familie und meine Freunde stehen sowieso hinter mir und geben mir viel Kraft. Ich muss mich aber auch bei meinen Mitspielern bedanken, die sich immer wieder regelmäßig melden und die mich auch im Krankenhaus besucht haben. Bei mir zuhause gibt’s nur eine Sache, die richtig nervt.
Welche wäre das?
Wenn ich hier die Treppen hochgehe habe ich oben angekommen keine Puste mehr. Die ganze Kraft ist momentan noch weg. Wenn ich früher mit Freunden Fußball gespielt habe und einige nach zehn Minuten nicht mehr konnten, hatte ich dafür nie Verständnis. Mittlerweile hat sich das geändert.
Gab es in den letzten Monaten noch ein anderes Aha-Erlebnis für dich?
Man lernt es wirklich zu schätzen, wenn man gesund ist. Selbst so Dinge, die für fast alle von uns selbstverständlich sind, wie gehen zu können. Ich habe in der Reha Menschen gesehen, die konnten sich kaum bewegen. Einem fehlte sogar ein Arm, ein anderer hatte keinen Fuß. Und ich habe doch nur ein kleines Band gerissen. Solche Erlebnisse öffnen einem wieder die Augen, egal wie deprimiert man zuvor noch war. Es gibt genügend Menschen, die so viel größere Sorgen und Probleme haben als ich.
Als sich Holger Badstuber das Kreuzband gerissen hat, ist er 18 Monate ausgefallen. Heute steht er wieder auf dem Platz. Gibt es noch andere Beispiele, die dir Mut machen?
Ja, doch dafür muss ich nicht in die Bundesliga gucken. Da gibt es schon Leute in meinem Umfeld, die mir Mut machen. Etwa ein Damir, der nach Kreuzbandrissen zurückgekommen ist. Strömi, der auch lange verletzt war oder letzte Saison Aaron, der auch immer wieder mit schweren Verletzungen zu kämpfen hatte und nie aufgegeben hat. Das bewundere ich wirklich sehr. Außerdem bin ich jemand, der viel Ehrgeiz und Willen hat. Deswegen rede ich mir immer wieder ein, dass ich es packen muss, egal wie lange es noch dauert. Andere haben es schließlich auch geschafft.
Wie oft bist du bei der Mannschaft vor Ort?
Ich habe es in der Hinrunde leider viel zu selten geschafft, nach Ahlen zu kommen. Ich wurde von meinen Mitspielern aber immer herzlich empfangen, umarmt und mit einem Lächeln in der Kabine begrüßt. Selbst die neuen Spieler, die mich ja kaum kennen, haben sich immer super verhalten. Wir haben schon eine besondere Mannschaft. Ich habe erst ein Jahr für Ahlen gespielt, trotzdem kommt es mir so vor, als wären es 20 Jahre gewesen. Die ganzen Leute im Verein sind mir wie eine Familie ans Herz gewachsen.
Und wie ist der Kontakt zu Marco Antwerpen?
Der Trainer meldet sich auch bei mir und fragt, wie es mir geht. Das ist ihm wichtig und kommt auch von Herzen, das spürt man. Als ich ihm irgendwann gesagt habe, dass ich nicht weiß, ob ich je wieder Fußball spielen kann, hat er es nicht akzeptiert, dass ich mir solche Gedanken mache. Er meinte nur zu mir, so weit sind wir noch lange nicht.
Du bist momentan im Prüfungsstress für die Uni. Hilft dir das sogar, um die ganzen Sorgen zu vergessen?
Ja, das ist eine gute Ablenkung. Auch wenn ich viel nachzuholen habe. Aber es geht voran. Letztens habe ich eine Vortrag gehalten und dafür eine Eins bekommen. Solche Erfolgserlebnisse sind im Moment doppelt wichtig. Bis Ende des Monats bin ich noch im Prüfungsstress und danach habe ich wieder Zeit, um die Spiele zu besuchen.
Wenn deine Leidenszeit irgendwann vorbei ist und du wieder auf dem Platz stehen wirst, was wirst du über diese Zeit dann vermutlich denken?
Diese Erfahrung macht einen stärker. Mich kann nicht mehr so viel schocken. Trotzdem ist es immer noch doof. Die einzige Sache auf der Welt, die ich so sehr liebe, kann ich seit so langer Zeit nicht mehr machen und kein Arzt kann mir versprechen, dass ich danach schmerzfrei sein werde. Die Hauptsache ist aber, ich kann irgendwann wieder auf dem Platz stehen. Das ist alles, was ich will. Ich will wieder Fußball spielen. Ich will wieder mit unseren Fans feiern, die mich immer unterstützt haben. Aber eines kann ich versprechen: Ganz egal wie lange es noch dauern sollte, irgendwann stehe ich wieder auf dem Platz. Irgendwann zerstöre ich wieder, denn das konnte ich immer noch am besten.
Und während es andere vermissen würden, Tore zu schießen, war das bei dir noch gleich welche Sache, die du am meisten vermisst?
Am meisten vermisse ich die Reaktionen der Fans während des Spiels. Wenn man einen schlechten Pass spielt und von der Tribüne ein blöder Spruch kommt, darauf freue ich mich in Zukunft wieder.